Vor 1900: Anfänge und Prägungen

Das 19. Jahrhundert, in dem Christian Rohlfs (1849–1938) und der fast zwanzig Jahre jüngere Emil Nolde (1867–1956) geboren werden und auch ihre künstlerische Prägung erfahren, ist gekennzeichnet durch die Emanzipation des Bürgertums in Folge der Französischen Revolution und im Zuge der von England ausgehenden industriellen Revolution. Damit ändert sich auch die gesellschaftliche Stellung der Kunst: Sie löst sich aus ihrer Abhängigkeit von Adel und Kirche und wird dafür dem freien Markt unterworfen. Der Autonomie-Status der Kunst steigt, Forderungen nach Originalität und Individualität werden laut und damit nach einer Überwindung der Regelästhetik. Demgegenüber gilt die Ausbildung an den Kunstakademien, in deren Zentrum ein dem Realismus verschriebener Zeichenunterricht steht, zunehmend als unfruchtbar. Es ist die Zeit, in der viele erfolgreiche Künstler Autodidakten sind.

Rohlfs studierte von 1870 bis 1884 an der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule Weimar und erhielt 1902 den Professorentitel der Weimarer Akademie. Demgegenüber blieb Emil Nolde als dem vierten von fünf Kindern einer nordschleswigschen Bauernfamilie eine reguläre akademische Ausbildung und Laufbahn verwehrt. Seine Lehrzeit begann vielmehr im Kunstgewerbe. Das Zeichnen erlernte er durch eine Lehre als Holzbildhauergehilfe, und nur im Geheimen nahm er an der Aktklasse der Kunstgewerbeschule Karlsruhe teil, gefolgt von einem Selbststudium und dem Besuch privater Malschulen. Das Frühwerk beider Künstler ist noch von der Dominanz des Realismus geprägt. Rohlfs aber löst sich in den 1880er Jahren von der Genremalerei. Schon sein Rückenakt (1878) legt die Betonung auf die Materialität der Farbe und die Pinselführung. Der Malakt wird darüber hinaus inhaltlich thematisiert, wirkt es doch so, als sei das Modell über seine teilweise Entblößung aus Scham errötet. Rohlfs zeigt hier eine genaue und einfühlende Beobachtungsgabe ohne zudringlich zu sein; dies prägt auch sein späteres Werk. Rohlfs vollzieht den endgültigen Bruch mit den Konventionen der akademischen Lehre durch seine Auffassung der Landschaftsmalerei. Dieses eigentlich nachrangige Genre wird von der Avantgarde der Zeit über seinen Status als bloße Studie hinausgehoben und gelangt zu Eigenständigkeit. Besonders stark orientiert sich Rohlfs an der Schule von Barbizon, die mit ihrer Freilichtmalerei eine Vorläuferin des Impressionismus ist. In dem alltäglichen Motiv seiner Märzlandschaft bei Weimar (um 1892) kommt eine markierte Zurückhaltung gegenüber der politisch- repräsentativen Inanspruchnahme von Kunst zum Ausdruck.

Nolde unterrichtet von 1892 bis 1897 als Fachlehrer für Modellieren und gewerbliches Zeichnen am Industrie- und Gewerbemuseum St. Gallen. Die Zeit dieser Tätigkeit nimmt eine Scharnierfunktion zwischen seiner Ausbildung und seiner eigentlichen Berufung als Künstler ein. 1894 veröffentlicht er eine Mappe mit 24 Blättern unter dem Titel Typen aus Appenzell-Innerrhoden. Die Mappe ist als Weihnachtsgeschenk für die Mitglieder des Alpen-Clubs gedacht, zu denen auch der begeisterte Wanderer Nolde zählt. Die Porträts von Bäuerinnen und Bauern sind der naturalistischen Zeichentradition verpflichtet, lassen aber bei den Männerbildnissen das lustvoll-karikatureske Beobachten erahnen. Diese Blätter sind ein frühes Beispiel der Gattung des Typenporträts, das nicht das Individuum würdigt, sondern Allgemeingültiges zu formulieren sucht.

Als Nolde seine Schweizer Anstellung verliert, weil er ausschließlich künstlerisch zeichnen lässt, nicht aber technisch, trifft ihn dies nicht. Mit seinen ebenfalls 1894 auf den freien Markt kommenden sogenannten Bergpostkarten feiert Nolde einen nicht nur finanziell großen Erfolg, der es ihm für einige Zeit ermöglicht sorglos seiner künstlerischen Arbeit nachzugehen. Die Darstellung von personalisierten Bergmassiven begründet eine neue Gattung, die schnell Nachahmer findet. Nolde entwickelt Gesichtszüge, die an allerlei fiktive Gestalten aus Märchen und Sagen erinnern und von seiner Leidenschaft für das Groteske zeugen, das sein gesamtes Schaffen durchzieht.

Für eine ihrer Interventionen wählen Lindner & Steinbrenner das Motiv von Noldes Holzschnitt Lachender Gnom mit dickem Kopf (1921) und heben die humorvoll-unbeschwerte Qualität von Noldes Werk hervor, die ihn im Sinne des Künstlers als Kind verstehen lässt. 1948 ziert ein ähnlich fantastisches Wesen von Noldes Hand den ersten Ausstellungskatalog der Kestner Gesellschaft, nachdem die Institution 1936 geschlossen worden war, weil man sich geweigert hatte, den jüdischen Direktor Justus Bier zu entlassen. Die Institution konnte nahtlos an ihr Vorkriegs-Programm anknüpfen, galt sie doch vielen verfolgten Künstler als integrer Ort. Dass Noldes Selbstmythisierung als Opfer des NS-Regimes damals unhinterfragt blieb, zeigt die Wirkungsmacht des Narrativs der „ungemalten Bilder“, aber auch, dass es eine Qualität in seinem Werk gibt, deren Wirkung von seinen abstrusen politischen Stellungnahmen nicht beeinträchtigt wird.

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