Primitivismus: Faszination durch die Ursprünge oder Vereinnahmung des Exotischen?

Die moderne Kunst, und nicht zuletzt der Expressionismus, ist untrennbar verbunden mit einer Sehnsucht nach dem Unberührten und Ursprünglichen indigener Völker und ihrer Artefakte, d.h. nach dem „Primitiven“ im eigentlichen Sinne des Wortes (lat. prīmitīvus = „das erste seiner Art“). Demgemäß bezeichnet der kunsthistorische Begriff des „Primitivismus“ nicht die Kunst indigener Völker selbst, sondern eine moderne westliche Kunstrichtung, die sich von indigener Kunst anregen lässt, weil sie an die überlegene Ursprünglichkeit des Primitiven glaubt. Betrachtet man Noldes Druckgrafiken Mann und Weibchen (1912), Tändelei (1917) und Mann und junges Weib (1918), die als Variationen auf das erste Menschenpaar, auf Adam und Eva, verstanden werden können, wird deutlich, was damit gemeint ist.

Eine wichtige Ermöglichungsbedingung für die Entstehung des Primitivismus war die Gleichzeitigkeit von Kolonialisierung und Industrialisierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert: Die Kolonialisierung führte zu erweiterter Kenntnis der nunmehr von Europäern beherrschten und wirtschaftlich ausgebeuteten indigenen Völker und Kulturen; die Industrialisierung schuf das Bedürfnis nach einem Ausgleich der mit ihr verbundenen Belastungen und stimulierte damit die Sehnsucht nach dem Fremden als dem Ursprünglichen. So nimmt das Ehepaar Nolde in den Jahren 1913/14 an der „Medizinisch-demographischen Deutsch-Neuguinea-Expedition“ teil, die es über Moskau, Sibirien, Korea, Japan und China in das damalige „Kaiser-Wilhelms-Land“ führt, d.h. in den Nordosten des heutigen Papua-Neuguinea. Es entstehen viele momenthafte Skizzen, die ein starkes Interesse an den Lebensverhältnissen der Indigenen zeigen. Nolde zeichnet aber nicht nur nach dem Leben, sondern auch nach ethnografischen Fotografien (Abbildungen). An diesem Punkt berührt sich sein Schaffen mit der Konstruktion verschiedener Menschenrassen durch ein vermeintlich wissenschaftliches Erfassen und Vermessen des „Exotischen“ von einem eurozentrischen Überlegenheitsdenken aus. Noldes einschlägige schriftliche Äußerungen stehen denn auch im Spannungsfeld zwischen respektvollem Interesse und selbstermächtigender Vereinnahmung. Er beklagt die Ausbeutung der Indigenen durch die Europäer und hegt doch gleichzeitig die Sorge, dass den deutschen Museen die besten Artefakte der „fremden“ Kulturen entgehen könnten, weil andere Kolonialmächte schneller seien. Rohlfs hingegen hat derartige Reisen nicht unternommen: Bei ihm nimmt die Neugier auf das Exotische einen viel geringeren Raum ein. Zwar finden sich einige Studien, die auf ethnologische Fotografien zurückzugehen scheinen (ausgelegtes Buch), doch scheint ihn die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen wie das weiße Überlegenheitsdenken eher zu belustigen (Ausstellungskatalog Seite 28). Einflussreich für die Gestaltung seines Figurenpersonals, etwa der Tänzerin (um 1913), sind hingegen ägyptische Stoffe aus der Sammlung von Osthaus.

Künstlerische Bildnisse sind Übersetzungsleistungen, die sich von der Referenz auf die reale Welt weit entfernen können. Noldes Holzschnitte Familie (1917) und Kerzentänzerinnen (1917) sind schöne Beispiele hierfür. Gleichwohl erscheint der faszinierte Blick heute in dem Maße als problematisch, in dem ihm bzw. seiner malerischen Objektivierung ein Kultur- und Herrschaftsgefälle zugrunde liegt: Dann wird der Blick zu einem Akt asymmetrischer Vereinnahmung; er übt, wie man heute sagt, ein „Blickregime“ aus. So schreibt Nolde: „Oben in Jütland suchte ich Zigeuner. In den Sandhügeln von Dejbjerg fand ich ein fallfertiges Häuschen und darinnen unter dem Fenster lag ein alter Zigeuner. Das Licht strömte wunderschön über ihn. Es war mir als Natureindruck fast ähnlich schön wie das herrliche Rembrandtbild: „Jacob, Josephs Kinder segnend“. Nur zögernd machte ich mich ans Malen. Eine alte Zigeunermutter dabei fuhr schimpfend hoch. Der Junge, der meine Sachen trug, lief schleunigst zur Tür hinaus. Ich blieb stehen.“ (Emil Nolde: Das eigene Leben, Berlin 1931, Seite 134). Dass hier ungeachtet der gemütlich-anekdotischen Erzählweise ein Blickregime am Werke ist, wird nicht nur am vergeblichen Abwehrversuch der „Zigeunermutter“ deutlich, sondern auch daran, dass Nolde diese Episode ausdrücklich mit einer weiteren vergleicht, die er einmal in Paris erleben durfte: „Ähnliches, noch Schöneres, ist mir später einmal in Paris begegnet.“ Damals hatte er versehentlich eine Französin beim Ankleiden erblickt und war von ihr beschimpft worden. Es zeigt sich hier eine regelrechte Lust am asymmetrischen, verbotenen Blick, der von dem schlafenden „Zigeuner“ bzw. der abgewandten Französin nicht erwidert werden kann. Ein solches Blickregime kann durchaus mit einer Charakterisierung des Fremden als schön und würdevoll oder als Träger allgemein menschlicher Werte einhergehen, wie Noldes Darstellung einer spanischen Roma (Abbildung) und sein Aquarell Mutter und Kind (Zigeuner) (1921), letzteres besonders im Vergleich mit der Lithografie Mutter und Kind (1913), zeigen: zugewandte Darstellungen, die gleichwohl durch ihre Titel und im Kontext weiterer Sinti und Roma-Darstellungen als Dokumente eines als Kulturdifferenz kodierten Herrschaftsgefälles gelesen werden können.

Auch Rohlfs’ Gemälde Zigeunerin mit Kind (1937), das von Anfang an auch den Titel Mädchen mit Kind trägt, scheint sich zunächst motivisch wie vom Titel her in diesen Rahmen zu fügen. Doch das Entstehungsdatum 1937 spricht entschieden für eine andere Deutung. Dieses Datum legt nämlich die Vermutung überaus nahe, dass die Darstellung des ängstlich aus dem Bild blickenden Kindes als eine Reflexion auf die Verfolgung der Sinti und Roma durch den Nationalsozialismus zu lesen ist.

Mit dem sogenannten, 29 Blätter umfassenden Tatjana-Zyklus wiederum liegt in Rohlfs’ Spätwerk eine besondere Form des Exotismus vor. Tatjana Barbakoff (1899–1944, ermordet in Auschwitz) hat als Tochter eines jüdisch-russischen Vaters und einer chinesischen Mutter tänzerisch ihre kulturelle Herkunft thematisiert. Mit fantastischen Kostümen und auch parodistischen Choreographien ist die autodidaktische Tänzerin Muse vieler Künstlerinnen und Künstler ihrer Zeit. Ihre außergewöhnliche Schönheit fasziniert auch Christian Rohlfs, mit dem sie befreundet ist. Neben ihren selbst schon das Exotische überspitzenden Darbietungen zeigt er sie auch mit ihrem Tanz Am Pranger, einer starken, unmissverständlich politischen Aussage.

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