Textile Parodie - sarkastisch und nahbar

Durch den Einsatz alltäglicher Textilien gewinnen künstlerische Arbeiten oft nicht allein einen starken Realitätsbezug. Gerade Kleidungsstücke und Funktionsstoffe scheinen den hehren Kunststatus banal und albern zu brechen. Wie Michelangelo Pistoletto, der einen Haufen Lumpen mit Metamorfosi betitelte und damit eines der wichtigsten Werke der Literaturgeschichte zitierte: Ovids Metamorphosen. Damit reiht er sich in eine große Zahl von Literatinnen und Literaten, Künstlerinnen und Künstlern ein, die Ovids Stoff bearbeitet haben. Pistoletto aber widmete sich nicht einer der weit über 200 Verwandlungsgeschichten aus den 17 Büchern, sondern schuf eine Installation, die die Betrachtenden selbst verwandeln können. Umschreitet man den Lumpenhaufen, der mittig von zwei quadratischen, Rücken an Rücken stehenden Spiegeln geteilt wird, dann wandelt sich das Verhältnis des bunten zum weißen Lumpen beständig. Stillstehend von der Seite gesehen, sind beide Lumpenhaufenhälften gleich groß und spiegelsymmetrisch geformt. „Lumpen“ bezeichnet schlechte und zerrissene Kleidung oder Lappen. Pistoletto verwendete den Lumpen bewusst und kontrastiert diesen mit klassischen Werken der Literatur und Kunst. Eine seiner Arbeiten zählt zu den wichtigsten der Arte Povera, jener in Italien in den 1960er Jahren entstandenen Kunstrichtungen, die auf besonders ‚arme‘ und einfache Materialien setzte. Die Installation Venus of the Rags existiert in mehreren Fassungen und besteht aus einem Lumpenhaufen, an den eine Venusstatue des Typs Aphrodite mit Apfel herangerückt ist (Venus ist die lateinische Bezeichnung der Liebesgöttin, Aphrodite die altgriechische). Den Apfel erhält Aphrodite durch das Urteil des Paris, der entscheiden muss, ob er den Apfel ihr, Hera oder Athene gibt. Aphrodite gewinnt, weil sie Paris die schönste Frau der Welt verspricht, die Gattin des Königs von Sparta, Helena. Auf Helenas Entführung zu diesem Zweck folgt der Ausbruch des Trojanischen Kriegs. Pistolettos Venus mit Apfel scheint mit dem von ihr angerichteten Unheil in Gestalt des Lumpenhaufens konfrontiert zu werden, schließlich steht jedes Kleidungsstück immer auch für einen abwesenden Träger. Pistolettos Arbeiten gelten hinsichtlich der Mengen alter Kleidungsstücke auch als Ausdruck einer Konsumkritik. Selbst die Venus mit Apfel lässt sich hier einordnen, handelt es sich doch um eine der meist reproduzierten und verkauften Gartenstatuen.

Annette Streyl widmet sich mit ihren Strickarchitekturen im Maßstab 1:100 ebenfalls einem Spektrum zwischen schnödem Konsum und künstlerischer Höchstleistung, ergänzt durch Symbole des Kapitalismus. Neben einem McDonald’s-Schnellrestaurant und Ikea-Geschäft finden sich diverse Bankgebäude, aber auch bekannte, teils sogar weltberühmte Architekturen wie der Berliner Fernsehturm, der Reichstag und Palast der Republik, die New Yorker Twin Towers, die von Albert Speer entworfene, aber nicht realisierte Große Halle oder auch das AT&T Building. Letzteres gilt als Höhepunkt der Postmodernen Architektur. 197 Meter hoch steht es in Manhattan und besticht durch das Spiel mit historischen Zitaten. Streyls maßstäbliche Verkleinerung und ihre Übersetzung der Gebäude in gestrickten Stoff lassen selbst monumentale Architekturen nahbar bis niedlich erscheinen, in jedem Fall vertraut. Denn der Strickstoff umhüllt, wärmt und schützt uns Betrachtende sonst in Form von Kleidung. Streyl lässt derart die Verwandtschaft des Textilen mit der Architektur auf spürbare Weise zum Tragen kommen. Gerade hierdurch parodiert die Künstlerin mit ihren schlaff aufgehängten Arbeiten, die sie konzipierte und von professionellen Strickerinnen umsetzen ließ, die stereotypen Zuordnungen von der weiblich codierten Handarbeit und der männlich besetzten Weltläufigkeit.

Ähnlich funktioniert Trockels Strickbild Freude, das sogar maschinell gefertigt wurde. Vordergründig besteht durch das Material, aber auch das Motiv der Delfter Kacheln, sehr wohl Kritik an geschlechtsspezifischen Vorurteilen. Der Innenraum, den solche Kacheln historisch zieren, ist der Raum der Frau. Komplexer wird diese Arbeit nicht allein aufgrund ihrer maschinellen Fertigung. Sie ist die Parodie einer Parodie, bezieht sie sich doch auf Sigmar Polkes Werk Carl Andre in Delft. Polke hatte damit seinen Kollegen und Vertreter des Minimalismus aufs Korn genommen, dessen berühmteste Arbeiten aus Bodenplatten bestehen, die die Betrachtenden betreten dürfen. Trockel überführt das bei Polke aus verschiedenen Motiven bestehende Kachelfeld in eines aus nur einem einzigen Motiv – vielleicht die bessere Parodie von Carl Andre, dessen Arbeiten oft einen Typ Bodenplatte aufweisen. Der Schriftzug „Freude“ könnte Ausdruck dieses Triumphs sein. Er könnte aber auch schlicht die Freude über die Arbeiten Carl Andres meinen. Auch malereigeschichtliche Referenzen sind denkbar. Delfter Kacheln finden sich in der holländischen Genremalerei des Goldenen Zeitalters. In diesen Interieurs sind die Gestalten von Frauen oder Paaren oft Chiffren für erotische Lust und Begehren. Die rhythmische Wiederholung von nur einem Motiv bei Trockel spielt so vielleicht auch auf die Freuden des Liebesakts an.

Als einziges wirklich händisch erarbeitetes Werk findet sich die von Patricia Waller in weiten Teilen gehäkelte Hommage an Vincent van Gogh: eine Vase mit Sonnenblumen auf einem Barhocker, daneben ein blutverschmiertes Messer. Nur das Ohr fehlt, möchte man meinen. Doch Waller führt das Stereotyp des genialen wie geisteskranken Künstlers nicht bis zum Ende aus. Sie führt es vielmehr an und verbindet es durch die Häkeltechnik mit der ebenso stereotyp weiblich erachteten Handarbeit. Ihre Geste ist dabei weit von konzeptueller Gleichgültigkeit entfernt und vielmehr liebevoll-zugewandt. Das belegen auch jüngere Arbeiten, die von kindlichen Opfern handeln.

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