Freiwilliges und unfreiwilliges Migrieren

Es mutet wie ein böser Scherz an: Gerade die Stoffe, die das lebensbejahende Selbstbewusstsein von Afrikanerinnen und Afrikanern ausdrücken, sind ein Produkt kolonialer Abhängigkeit und Ausbeutung des 19. Jahrhunderts. Der Künstler Yinka Shonibare verwendet für seine Werke bewusst Dutch Wax, um auf diese Geschichte hinzuweisen. Dutch Wax ist eine Erfindung der Niederländer aus der Zeit, als Indonesien ihre Kolonie war. Die Kolonialherren wollten einen Stoff entwickelten, der auf der Technik der indonesischen Batik fußte, aber anders als diese nicht in wochen- oder monatelanger kunstvoller Handwerksarbeit entstand, sondern gewinnmaximierend industriell produziert werden sollte. Ziel war es, einen bestehenden Markt für sich zu erschließen und zu dominieren, indem man eine textile Vorliebe aufgriff. Die Wachsdruckstoffe mit den von den Niederländern entworfenen Ornamenten und grellen Farben aber fanden keinen Absatz in Indonesien. Erst später, als man in Indonesien begann, Stoffe chemisch zu färben, veränderte sich auch dort die Farbpalette hin zu intensiveren Farbnuancen.

Ein Absatzmarkt für Dutch Wax war da längst gefunden: Mit Hilfe des Netzwerks christlicher Missionare wurden afrikanische Frauen zu Unterhändlerinnen, die durch den Verkauf an andere Frauen auf Märkten deren Wünsche und Vorlieben erfuhren, so dass diese – wiederum über die Missionare – in die Gestaltung der Stoffe in den Niederlanden einflossen. Nach der Dekolonialisierung Afrikas in den 1960er Jahren unterhielt Togo als einziges westafrikanisches Land noch Wirtschaftsbeziehungen zu europäischen Ländern. Dutch Wax wurde weiterhin von Stoffhändlerinnen vertrieben, von denen man bald sagte, sie kleideten ganz Afrika ein. Zeitweise erwirtschafteten die Geschäftsfrauen 40% des Bruttoinlandsprodukts von Togo. Ihre Vorliebe für importierte Luxuskarosserien brachte ihnen den Spitznamen Nana Benz ein, was „Mutter“ beziehungsweise „Großmutter“ mit Mercedes Benz zusammenbringt. Nach wie vor ist Dutch Wax eine Luxusware und der niederländische Hersteller Vlisco ist mit über 350.000 Stoffentwürfen weiterhin der weltweite Marktführer. Daneben sind durch die Zunahme chinesischer Stoffe, aber auch Fälschungen, viele kleinere afrikanische Produktionsfirmen wirtschaftlich bedroht, ebenso das Wissen um Herstellungsverfahren vor Ort.

Diese historische Komplexität des Textils ist in den Arbeiten von Yinka Shonibare aufgehoben. Die Kostüme des 18. und 19. Jahrhunderts verweisen bei ihm auf ein weißes Überlegenheitsdenken. Das hier ausgestellte Werk Un Ballo in Maschera (Gustav III and Anckarstrom) zitiert mit seinem Titel Giuseppe Verdis Oper Un ballo in maschera (1859). Schwedens König Gustav III. (1746–1792) war zu seiner Zeit einer der schillerndsten Herrscher Europas: Der Verfechter des Sklavenhandels war bekannt für seine Prunksucht, die sich unter anderem in Maskenbällen äußerte. Er war ein großer Förderer von Kunst und Kultur. So entstand auf seine Initiative hin das erste Opernhaus Schwedens in Stockholm. Eben dort sollte Gustav III., der entsprechende Warnungen ignoriert hatte, einem Mordanschlag zum Opfer fallen und erschossen werden (trotz Kostümierung war der König durch den Seraphinenorden am Revers immer erkennbar). Verdi schließlich musste seinen Opernstoff um den Königsmord nach Boston verlegen, um nicht der politischen Zensur zum Opfer zu fallen. So wird bei ihm aus dem tödlichen Schuss ein Messerstich.

Für Shonibare liegt ein großer Spaß darin, Kostümschnitte des Viktorianischen Imperiums und der Zeit der Französischen Revolution mit den unerhört bunten afrikanischen Stoffen umzusetzen und noch dazu kopflose Figurinen damit zu bekleiden. Der Künstler versteht Kultur als eine Schichtung von Dingen, die nicht dazu gedacht sind, zusammen zu passen.

In diesem Sinne lassen sich auch die Arbeiten von Nevin Aladag˘ und dem Kollektiv Slavs and Tatars lesen. In ihrer Werkreihe Social Fabric widmet sich Aladag˘ diversen Stoffen verschiedener kultureller Herkunft und Produktionsweise. So sind handgeknüpfte Teppiche neben Auslegeware zu sehen. Gleichberechtigt, aber durch schwarze Konturen doch klar voneinander abgesetzt, bilden sie eine abstrakte Komposition, die für ein respektvolles soziales Geflecht einzustehen vermag. Slavs and Tatars fügen mit ihrem Objekt The Dear for the Dear verschiedene Formen des Glaubens zusammen: Auf einem Koranständer (Rahle), der mit einer Suzani-Stickerei bedeckt ist, findet sich eine hölzerne Gurken-Skulptur. Mit der Rahle ist auf den Koran, die Heilige Schrift des Islams, verwiesen, die sowohl die islamischen Gesetze bereithält als auch mit ihren selbstreferentiellen Verweisen für die arabische Dichtung und Rhetorik prägend ist. Der Titel The Dear for the Dear entspricht dem mit seiner Wiederholung. Die Stickerei wiederum steht in der Tradition der Abwehr böser Geister, während die Gurke in vielen Kulturen Potenz und Fortpflanzung beschwört.

Vincent Vulsma richtet seine Aufmerksamkeit auf Formen kultureller Aneignung, die nicht immer respektvoll verlaufen. So geht seine Arbeit WE 455 (VIII) auf Schwarzweißfotografien von Textilien der Kuba in Zentralafrika zurück. Aufgenommen wurden die Fotografien von keinem geringeren als Walker Evans, der 1935 für das Museum of Modern Art in New York die Exponate der Ausstellung African Negro Art dokumentierte. Der Ausstellungstitel entspricht nicht den heutigen Standards einer diskriminierungssensiblen Sprache und ist rassistisch. Als problematisch gilt die Ausstellung, die damals mit über 45.000 Besucherinnen und Besuchern die bis dahin erfolgreichste des MoMA war, auch, weil sie die Objekte rein ästhetisch verstand und den ethnologischen Kontext nicht betrachtete. Evans’ Fotografien hingegen erfüllten nicht allein die Funktion der Dokumentation für den Ausstellungskatalog. Sie erschienen im selben Jahr als Portfolio. Die Portfolios dienten dazu an verschiedenen Orten ausgestellt zu werden, um so die afrikanischen Kulturobjekte einem größeren Publikum bekannt zu machen. Wenn Vulsma aus verschiedenen Schwarzweißfotografien von Textilien digitale Webvorlagen erstellt, dann erschafft er Werke, in denen die komplexe Geschichte der Objekte wie ihrer Vermittlung aufgehoben ist. Und er schreibt sich selbst in diese Geschichte hinein und beansprucht keinen Standpunkt der Kritik von außen.

Anna Eisermann agiert mit ihren Arbeiten gleich doppelt aus einem Inneren: Zum einen verwendet die aus Simferopol, von der Schwarzmeer-Halbinsel Krim, stammende Künstlerin typische Stoffe ihrer Heimat, der Ukraine. Zum anderen lässt sie sich von ihrem Unbewussten leiten. So beginnt sie meist mit einem Stück Stoff, ohne zu wissen, welche Komposition daraus erwachsen wird. Die Werke Liebe, Hoffnung und Glaube I und II sowie Die Transformation von 2018 sind beeinflusst von der aufwühlenden Verarbeitung der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014. Stellt man sich die haubenartige Arbeit Die Transformation getragen vor, dann umhüllen die langen Fransen die Trägerin oder den Träger wie ein Trauerflor. Für Eisermann symbolisiert die Arbeit tatsächlich eine schwere Last. Gerade die an Wandteppiche erinnernden Werke mit der geänderten Reihenfolge der christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung aber zeugen mit ihrer Materialität und Farbigkeit ebenso von Solidarität und Zuversicht.

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