Ein zentraler Bezugspunkt für textile Kunst ist das Bild als Träger von Darstellungen und als Objekt selbst. Der Mensch ist ein bildermachendes Wesen, ein homo pictor. Man denke an die Malereien und Handabdrücke in urzeitlichen Höhlen. Das Motiv des legendenhaften Gesichtsabdrucks Jesu Christi in das Schweißtuch der Heiligen Veronika gibt Aufschluss über die lange Zeit religiös gerechtfertigte Bildproduktion. Aber auch darüber, dass Textil einer der ursprünglichsten Bildträger ist, auch wenn für lange Zeit der Bildträger selbst vollkommen hinter eine lebensnah-illusionistische Darstellung zurücktreten sollte. Von Letzterem zeugt die Legende des Wettstreits der Maler Zeuxis und Pharrasius. Während an Zeuxis’ Stillleben mit Trauben die Vögel picken, versuchen die Betrachtenden des Bildes von Pharrasius zunächst, den Vorhang zur Seite zu ziehen, um es zu sehen. Doch der Vorhang ist gemalt und die Täuschung des menschlichen Auges bringt den Gewinn. Tatsächlich gehört das Abdecken von Bildern mit Stoff zur Geschichte des Umgangs mit ihnen, sei es aus rituellen Gründen oder weil es sich um besonders kostbare oder aber delikate Werke handelte.
Wenn Künstlerinnen und Künstler im 20. Jahrhundert ihren ‚Malstoff‘ nicht mehr auf Keilrahmen aufspannten und lose hängen ließen, dann taten sie dies vor dem Hintergrund der Jahrhunderte alten Produktions- und Rezeptionsweisen von Bildern. Voraussetzung für die zunehmende Fokussierung auf die materiellen Eigenschaften des Bildmediums war, dass die Malerei nicht mehr Gegenständliches zeigen musste. Dies hatte längst die Fotografie übernommen. Abstrakte Ornamente oder monochrome Farbflächen betonen seither das Bild als Fläche und machen es als Objekt erfahrbar. Die hier versammelten Arbeiten treiben diese Selbstbezüglichkeit noch weiter, wenn sie den herkömmlichen Leinwandstoff durch andere Stoffe ersetzen.
Sonia Delaunay-Terks Wandteppich, etwa, geht auf eine abstrakte zeichnerische Komposition zurück. Die Entscheidung, diese später zu knüpfen, beweist die Gleichberechtigung, die Künstlerinnen und Künstler der freien und angewandten Kunst beimaßen. Sigmar Polke versah eine Streifenmuster-Decke der Nachkriegszeit mit einem Ornament gelber Quadrate, das etwas unbeholfen, unregelmäßig wirkt. Es scheint die Geburt abstrakter Kunst durch Kasimir Malewitsch’ Schwarzes Quadrat zu parodieren. Gérard Deschamps nutzte keine Farbe, sondern vernähte verschiedene Gebrauchsstoffe Quilt-artig miteinander oder stauchte sie zusammen. André-Pierre Arnal und Claude Viallat, beide Künstler der Gruppe Supports/Surfaces, trugen zwar Farbe auf Stoff auf, verzichteten aber auf eine Keilrahmenkonstruktion. So hängt das Textil jeweils frei. Bei Arnal ist es zudem gefaltet worden, bei Viallat als Stück Stoff einer Hose erkennbar.
Wie weit die Gruppe Supports/Surfaces in ihrer Spreizung des Bildbegriffs ging, zeigen historische Ausstellungsansichten mit Werken, die frei im Innen- oder Außenraum verspannt sind und an Fahnen oder Zelte erinnern. Diese konzeptuelle Dehnung der Malerei greift der Künstler Ben mit einem Multiple auf, das aus einem Stück Leinwand und fotografischen Darstellungen besteht, die illustrieren, was man aus dem Stoff alles machen kann. Gewidmet ist die Arbeit Claude Viallat, wohl mit einem Augenzwinkern, denn Vorschläge umfassen alltägliche, banale Gebrauchsweisen, wie eine Verwendung als Tischtuch, Vorhang oder Zelt. Rosemarie Trockels unbetitelte Arbeit von 1986 erinnert an die Black Paintings von Frank Stella. Erst aus der Nähe betrachtet sind im schwarzblauen maschinengestrickten Stoff Muster aus Plus-Zeichen und Swastika erkennbar. Die Arme der Kreuze weisen nach links und nicht, wie beim Symbol, das der Nationalsozialismus für sich in Anspruch nahm, nach rechts. Dem Schreck über das Erkannte tut dies aber keinen Abbruch. Ebenso verhält sich Trockels Auflagenarbeit Balaklava desselben Jahres. Sie geht auf ukrainische Wollmützen zurück, die weltweit nicht allein zum Warmhalten, sondern zur Vermummung bei politischen Demonstrationen wie bei Straftaten genutzt werden. Die so widersprüchlichen Hakenkreuz- und Playboy-Bunny-Muster offenbaren den schmalen Grat zwischen einer sinnentleerten, naiven Inanspruchnahme von Bildzeichen und ihrem bewussten Einsatz als Ausdruck einer politischen Haltung.