Pflanzliche und tierische Fasern derart zu bearbeiten, dass sie sich zu einem Gewebe oder Flechtwerk fügen lassen und damit dem Körper zur schützenden Bedeckung und Behausung werden, ist eine der zentralen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte. Diese Funktionalität ging immer schon mit ästhetischen Werten einher. Das Jahrtausende alte Handwerk des Webens hat neben gegenständlichen Motiven, unter anderem durch seine Grundeigenschaften von Kette und Schuss, ein großes Erbe an abstrakten Mustern hervorgebracht. Zum einen ist dieses schmückend ornamentaler Natur, zum anderen ist es Träger symbolischer Werte und Inhalte. Funktion und Bedeutung, aber auch der äußerst langwierige Herstellungsprozess, lassen den Besitz gewebter Textilien in vorindustriellen Zeiten zu etwas ungemein Kostbarem und Symbolträchtigem werden. So rückt das Textile in die Bereiche von Religion und Ritus vor und bildet sich zu einer Metapher der menschlichen Existenz aus.
In der Antike etwa huldigten die Athener ihrer namengebenden Schutzgöttin Athena mit den Panathenäischen Spielen. Diese gipfelten darin, der Göttin ein über neun Monate gewebtes, reich verziertes Gewand (Peplos) in einer Prozession darzubringen und ihrer Monumentalstatue im Parthenon umzulegen. Die symbolische Dauer einer Schwangerschaft verband sich so mit dem Gründungsmythos der Stadt Athen. Daneben findet sich die antike Vorstellung von den drei Schicksalsgöttinnen, die den Lebensfaden spinnen, abmessen und schneiden und damit die Art und Länge jedes menschlichen Lebens vorherbestimmen. Sie setzt sich heute wiederum in Redewendungen wie derjenigen vom seidenen Faden, an dem etwas hängt, fort. Auch Überlebenswille und List verbindet der antike Mythos mit dem Textilen. In der Odyssee lässt Homer Penelope, die während der Irrfahrt ihres Mannes Odysseus von Freiern belagert wird, tagsüber ein Tuch weben, mit dem Versprechen, für eine neue Vermählung bereit zu stehen, sobald dieses fertig sei. Des Nachts trennt sie das Gewebte auf und schafft es, bis zu Odysseus’ Rückkehr die Freier fernzuhalten. Aus dem Labyrinth des Minotaurus, schließlich, findet Theseus dank des Ariadnefadens sicher hinaus.
Die in den Auftakträumen dieser Ausstellung versammelten Kunstwerke beziehen sich auf den kulturgeschichtlichen Ideenreichtum des Textilen: fadenscheinig (ich bin der rote faden, / an dem ich hänge.) – sowohl das kleine Multiple mit Sicherheitsnadel als auch das Unikat mit Seil von Timm Ulrichs setzen den Faden als Sinnbild zwischen individueller Selbstbestimmung und Vorherbestimmung ein. Wenn Jens Risch über tausende Stunden einen Seidenfaden knotet, bis kein Knoten mehr möglich ist, dann fällt die Symbolik der menschlichen Existenz mit der tatsächlichen Lebenszeit, die in das Kunstwerk eingebracht wurde, zusammen. Yvonne Roeb widmet ihre beiden Teppiche, die sich wie ein Bodenmosaik ausbreiten, dem Gott der Ewigkeit Aeon, der in Darstellungen oft von einer Schlange umwunden gezeigt wird. Das Tier, das sich wieder und wieder häutet, symbolisiert die unendliche Wiederkehr von allem. Ulrike Kessls ortsspezifische Installation Nylons in Space, die sich im Foyer aufspannt, findet ein optimistisches Bild für das Vernetzen als Symbol unseres gesellschaftlich kommunikativen, immer situativen Zusammenhalts.
Das Textile mit seiner Lebensnähe ist, was die jüngere Geschichte wie unsere Gegenwart betrifft, von ungebrochener Komplexität. Im 19. Jahrhundert begründete die Textilindustrie von England ausgehend die Industrielle Revolution. Dort wurde in Baumwollspinnereien das „weiße Gold“ weiterverarbeitet, das Millionen verschleppte und versklavte Afrikanerinnen und Afrikaner auf den Feldern der Südstaaten unter unmenschlichsten Bedingungen geerntet hatten. Auch die europäischen und US-amerikanischen Arbeiterinnen und Arbeiter, unter ihnen viele Kinder, bezeichnet man heute als Sklaven, als weiße Sklaven: lange Stunden, fehlende medizinische Versorgung, Lärm, der nicht selten zur Taubheit führte, ein früher Tod durch Staublunge oder die Maschinen. Prekäre Verhältnisse machen die Textilindustrie seit jeher auf das Schändlichste aus, gerade auch in Zeiten unserer global produzierten Fast Fashion. Weltweit ist die Textilindustrie ein Schwergewicht, nicht nur marktwirtschaftlich, sondern auch was die Umweltbelastung betrifft. Mahatma Gandhis Spinnen als widerständiger Akt der Selbstversorgung gegen machtpolitische Verhältnisse hat also nichts von seiner Schlagkraft verloren.
Verwenden zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler Textilien und textile Techniken, dann führen ihre Arbeiten in unterschiedlicher Gewichtung die spezifischen historischen, politischen, sozialen und ästhetischen Dimensionen und Konnotationen immer schon mit. Davon handelt diese Ausstellung.