Achtsame Wertschätzung des Textilen

In der Regel wirft man seine Kleidung nicht einfach achtlos weg. Man verliert sie unbemerkt oder vergisst sie. Liegengelassene Kleidung hat etwas Befremdliches und Beunruhigendes. Sie ist als getragener Stoff intim, nimmt Geruch und Schweiß ihrer Trägerinnen und Träger auf. Verwaiste Kleidung aber kann immer auch ein Hinweis auf Gewalt sein und Opfern gehören. Reinhold Engberding hat für seine Installation One Month in Dallas einen Monat lang 34 Kleidungsstücke von den Straßen der texanischen Stadt aufgehoben. Er hat sie gewaschen, getrocknet, gefaltet und gebunden. Die so entstandenen festen Knäuel haben stellvertretend die Fürsorge und Achtsamkeit erfahren, die womöglich ein Mensch hätte erfahren sollen. Bei dieser liebevollen Geste des Kümmerns treten das konzeptuelle Erbe der Arte Povera und konsumkritische Aspekte in die zweite Reihe. Im jeweiligen Ausstellungsraum führt Engberding die Fragilität seiner Stellvertreter-Objekte behutsam fort. Die in Größe, Form, Material und Farbe divergierenden Knäuel verteilt der Künstler großzügig, sodass sie sich einerseits sehr zurücknehmen und andererseits den ihnen gebührenden Raum erhalten.

Dem sonst nicht Beachteten widmet sich auch Marion Baruch. Für ihre Einzelobjekte wie für ihre raumgreifenden Installationen verwendet die Künstlerin seit 2013 Abfälle der Textilindustrie. Beim maschinellen Stanzen von Stoff bleiben die Bahnen am Stück als Reste zurück. Marion Baruch spannt sie unverändert wie Girlanden auf oder präsentiert sie wie Bilder. Im Zentrum ihrer Arbeit steht der Begriff der Leere. Er ist für die Künstlerin nicht negativ besetzt, sondern wird als Möglichkeitsraum aufgefasst. Dies spiegelt sich in der Arbeit Une chambre vide von 2009, für die Baruch über einen Monat lang Geflüchtete, Nachbarinnen und Nachbarn, Passantinnen und Passanten immer dann von der Straße in ein leeres Zimmer ihrer Wohnung zum Gespräch einlud, wenn der Sonnenschein ins Zimmer fiel. Paris und Mailand (unweit der norditalienischen Stadt wohnt Baruch heute) sind mit ihrem Status als Modemetropolen sicherlich von großer Bedeutung für die Arbeiten der letzten Jahre. Mit Textilien aber beschäftigt sich Baruch seit langem, dies auch hinsichtlich der Diktate der Modebranche. In ihr Werk Abito – Contenitore von 1969 gehüllt lief sie 1970 an den Luxusboutiquen großer Modehäuser in der Mailänder Via Monte Napoleone entlang. Das „Behälter-Gewand“ changiert je nach Köperhaltung der Trägerin zwischen einer rechteckigen Box und den aus dem Islam bekannten Kopf- und Ganzkörperschleiern Nikab und Tschador. Die Kunstgeschichte kennt Vasen und Gefäße als sexualbiologische Symbole für den weiblichen Körper. Baruchs hybrides Gewand kann dahingehend als Geste der Selbstbestimmung verstanden werden, die darüber verfügt, wie das „Behälter-Gewand“ gefüllt und wie es drapiert wird.

Eine hohe Symbolkraft hatte für Joseph Beuys Filz. Der aus tierischen oder menschlichen Haaren gewalkte Stoff ist für seine gute Isolierfähigkeit bekannt. Traditionell werden in der Mongolei Jurten aus Filz gebaut. Hirtinnen und Hirten vieler Kulturen tragen Filzmäntel oder -umhänge. Das Isolieren schafft Wärme und schottet gleichzeitig ab. In dieser Funktion hat sich Beuys wiederholt in Filz gehüllt. Für seine Performance Der Chef wickelte er sich 1963 acht Stunden lang, die Dauer eines Arbeitstages, in den Stoff. Mit Filzdecke und Hirtenstab verbrachte er 1974 drei Tage mit einem Kojoten in einem Käfig in der Galerie René Block in New York. Eine Geste der Versöhnung mit einem Tier, das von der indigenen Bevölkerung mythisch verehrt wird und das von europäischen Siedlern lange Zeit gejagt wurde. Beuys ließ sich auf dem Weg vom und zum Flughafen in Filz einwickeln: „Ich wollte mich isolieren, mich abschirmen und nichts von Amerika sehen als den Coyoten.“ Berühmt ist der Filzanzug, der als Auflagenarbeit in der Edition Block entstand und von Beuys als Fortführung seiner Plastiken mit Filz verstanden wurde, „ein Objekt, was man gerade nicht anziehen soll.“

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