Elke Haan stellt das Kunstwerk des Monats vor: Miriam Cahn (*1949 Basel), "Baumporträt", 1996, Öl auf Leinwand 30,3 x 20,6 cm. Das Werk kam mit der Schenkung van de Loo 1997 in die Sammlung der Kunsthalle Emden:
„Baumporträt“ betitelt die Künstlerin Miriam Cahn (*1949) das kleine, handliche Ölbild in intensiven, fast neonartig leuchtenden Farben, kreiselnd aufgetragen, schwankend zwischen Figuration und Abstraktion. Aus einem senkrecht gemalten Stamm in dunklem Violett zweigen in gleicher Höhe sechs Äste strahlenförmig nach oben ab und neigen sich in ihren Enden wieder zueinander wie der Kelch einer Blume. Wie ein Gewächs, das in der Form einer gespreizten Hand ähnelt, ist es von einer Art Schutzhülle aus gelb-leuchtender Farbe umgeben. So entsteht etwas Körperhaftes, Organisches, geheimnisvoll von innen Leuchtendes. Assoziationen wie Glühlampe, Koralle, Eihülle, ja, sogar außerirdische Lebensformen steigen auf. Ebenso erinnert das Bild an steinzeitliche, 45 000 Jahre alte Handabdrücke in Höhlenmalereien. Die Maler verewigten ihre Hand, indem sie diese an die Wand legten und den Umgebungsraum mit Farbe bespritzten.
Cahns sogenanntes Baumporträt ist kein Porträt im herkömmlichen kunsthistorischen Sinn, kein menschliches, individuelles Abbild eines Gesichtes, und auch keine Darstellung eines Baumes in seinem einzigartigen, langjährig entwickelten Wuchs. Eher ist es ein fast mystisches Bildzeichen, eine Hieroglyphe. Die Künstlerin zeigt ein organisches Mischwesen aus Pflanze und Mensch von unbestimmter Immaterialität, erfüllt mit mysteriösem Leben, so wie sie auch in anderen Werken Mischwesen aus Mensch und Tier erschafft: „Hundeartig“ von 1998 und aus demselben Jahr „Pferdeähnlich“, sowie „Schildkrötenhände“ aus dem Jahr 1996.
Miriam Cahn, geboren 1949 in Basel, ist eine der bedeutendsten Vertreterinnen der gegenwärtigen Schweizer Kunst. Sie studiert 1967-1973 an der Kunstgewerbeschule in Basel, wo sie die Grafikfachklasse besuchte. Ab 1976 arbeitet sie als freischaffende Künstlerin, überwiegend in tiefschwarzer Kohle und Bleistift auf weißem Papier. In einem körperbezogenen, performativen Akt, auf dem Boden liegend, erschafft sie riesige Großformate, die ganze Räume ausfüllen. Gleichzeitig beteiligt sie sich aktiv und rebellisch in der Friedens- und Frauenbewegung. In ihren Werken thematisiert sie Tod, Gewalt, Krieg und Verletzlichkeit. Sie wendet sich gegen geschlechterspezifische Rollenverhältnisse und orientiert sich im Rhythmus ihres Arbeitens an ihrem weiblichen Zyklus: es entstehen sogenannte Blutungs- und Eisprungarbeiten. Bildmotive und Farben teilt sie in männliche und weibliche Kategorien ein. 1979/80 erregt sie großes Aufsehen mit ihrer nächtliche Protestaktion „mein frausein ist mein öffentlicher Teil“, in der sie an einer im Bau befindlichen Autobahnbrücke in Basel Wandzeichnungen anbringt, für die sie sich später vor Gericht verantworten muss. Ende der 80er Jahre wendet sie sich zunehmend der Malerei und der Farbe als Träger der Emotionen zu. Heute lebt und arbeitet Cahn in Stampa im Bergell, Kanton Graubünden.
Miriam Cahns rätselhaftes, fast mystisches Bildzeichen eines Baumes/einer Hand zeigt den archaischen Zusammenhang von Leben, die Vorstellung von Natur als unendlichem - Mensch, Tier und Pflanze umfassenden – Prozess, sowie deren Verletzlichkeit. In dieser Hinsicht steht sie in der Tradition der Maler der Romantik und in enger Verwandtschaft mit der geistigen Motiv- und Farbwelt Franz Marcs.