Kunstwerk des Monats: Karl Hofer "Tiller-Girls"

Elke Haan stellt Ihnen das Kunstwerk des Monats vor: Karl Hofer, Tiller-Girls, vor 1927, 110,1 x 88,6 cm, Öl auf Leinwand. Kunsthalle Emden - Sammlung Henri Nannen.

Fasziniert erblickt der Betrachter auf dem Gemälde Tiller-Girls, von Karl Hofer (1878 Karlsruhe – 1955 Berlin), zwei nackte, lebensgroße Frauen in fast identischer, seitlich gedrehter und schreitender Körperhaltung. Von ihren mit schlanken, eher knabenhaften Körpern sehen wir ihren jeweils linken Arm leicht schräg vom Körper weggestreckt, den rechten Arm seitwärts erhoben, die Hände dazu merkwürdig abgeknickt und spannungslos herabhängend. Die androgynen Körper, gemalt in kühlem Weiß, violett schattiert und schwarz umrissen, erinnern eher an antike Marmorfiguren; Brustwarzen und Lippen dagegen leuchten wie erotische Signale in grellem Rot. Der Hintergrund bleibt nahezu raumlos in violett-grauen und gelblich-grünen Farbflächen. Lediglich eine von der oberen linken Bildecke bis zur Hüfte der linken Frau gezogenen Diagonale deutet einen Raum an. Dies könnte ein Bühnenraum sein oder ein Vorhang, in dessen Richtung sich die beiden Frauen bewegen. Denn sie gehören, wie der Bildtitel schon sagt, zu den „Tiller Girls“.

Die „Tiller Girls“ waren in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine bekannte Revuegruppe, benannt nach ihrem Begründer, dem englischen Tanzmeister John Tiller (1845–1925). Hier tanzten bis zu 32 gleich große junge Frauen auf der Bühne, die sich in langen Reihen, leicht bekleidet, präzise und völlig synchron im Tanz bewegten. Karl Hofer, seit 1922 Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin und selbst begeisterter Tänzer, hatte die Tiller-Girls im Berliner Admiralspalast, wo sie allabendlich auftraten, gesehen. Das Tanzfieber hatte Berlin in jenen Goldenen Zwanziger Jahren ergriffen: Der Tanz war das Symbol des modernen Großstadtlebens, im Tanz schlug der Puls der Zeit als Ausdruck eines gesteigerten und von Konventionen befreiten Lebensgefühls.  

In zahlreichen Gemälden der expressionistischen Malerei waren Tänzer und Tänzerinnen bereits ein bevorzugtes Sujet. Mit dynamischer Pinselführung und starker Farbigkeit suchte sie die Bewegung, die Schnelligkeit, den Augenblick abseits des klassischen Tanzes widerzugeben. Die moderne Frau, die sogenannte Neue Frau, befreite sich ebenfalls radikal von alten, erstarrten Rollenbildern: berufstätig, sportlich, abenteuer- und vergnügungssüchtig, trug sie Hosen und Bubikopf, studierte und schrieb Literatur oder Artikel für zahlreiche neue Zeitungen und Zeitschriften.

Auch Hofers Tiller-Girls zeugen von dieser Zeit mit ihren großen, gesellschaftlichen Umbrüchen und ihrem überschäumenden Lebensgefühl. Jedoch, obwohl Gestalt und Frisur dem Typus der Neuen Frau entsprechen, sind seine beiden Figuren entindividualisiert, eher Konsumware als selbstbestimmte Frau, introvertiert. Aus einem maskenhaften, typischen „Hofergesicht“ blicken sie mit offenen Augen an uns vorbei. Sie strahlen Melancholie, Einsamkeit und Isoliertheit aus, aber, und das ist Hofers Bestreben und großer Verdienst, ebenso durch eine stille Würde und Schönheit, durch ein zeitlos-gültiges, fast erhabenes Menschenbild.

Mit seinem Werk nimmt Karl Hofer eine Sonderstellung ein zwischen den expressiv-bewegten, stark-farbigen Bildern der expressionistischen Avantgarde und den nüchtern-sachlichen Menschenbilder der aufkommenden Neuen Sachlichkeit: Er gilt als großer Einzelgänger in der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts, der zeitlebens am Menschenbild und der Figuration festhält und sich auch nach 1945, als wiedereingesetzter Direktor der Hochschule der Bildenden Künste in Berlin, vehement gegen die sich etablierende abstrakte Kunst aussprach.

Die Kunsthalle Emden besitzt nur dieses eine, von Henri Nannen selbst gestiftete Werk Hofers, das bereits im Oktober 1986 in der Eröffnungsausstellung Hinter dem Rahmen gezeigt wurde und seitdem zu den Ikonen der Sammlung gehört. In der Ausstellung EIN BILD DER ZEIT. Expressionismus in Film und Kunst ist das Gemälde als eines der Leitmotive zusammen mit Meisterwerken der expressionistischen Filmkunst zu sehen.

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