Kunstwerk des Monats: Bernard Schultze, "Für Hölderlin und die Insekten"

Nora Stölten stellt das Kunstwerk des Monats vor: Bernard Schultze, Für Hölderlin und die Insekten, 1984, Ö/Lwd., 200,1 × 139,9 cm © VG Bild-Kunst, Bonn 2021 Schenkung der Freunde der Kunsthalle e. V., 1989

Metamorphosen, Halluzinationen oder Entfesselung sind nur einige Begriffe, die uns bei der Betrachtung von Werken Bernard Schultzes (1915–2005) in den Sinn kommen. Die berauschend‑sinnlichen Farbspektakel und fantastischen Landschaften heben sein Werk auf eine ganz besondere Ebene der informellen Malerei. Zusammen mit K. O. Götz, Otto Freis und Heinz Kreutz, seinen Kollegen der Ausstellungsgemeinschaft Quadriga, war Schultze einer der Hauptakteure der deutschen Nachkriegskunst. Als Synthese aus den Einflüssen des französischen Tachismus‘ und des US-amerikanischen Action Paintings entwickelte Schultze in den 1950er und 1960er Jahren eine ureigene Bildsprache: Unter dem Namen Migofs schuf er eine Hybridform zwischen surrealen Traumwesen und verzweigten Gewächsen, die sich mit der Zeit immer mehr vom Malgrund lösten, dem Bildraum reliefartig entwuchsen und später als eigenständige dreidimensionale Installationen die Leinwand hinter sich ließen. Mit der Verlebendigung seiner Migofs schuf Schultze eine Objektform zwischen Malerei, Relief und Skulptur und in diesem Sinne eine Allegorie der Unzähmbarkeit der Natur – eine Thematik, die sich konsequent durch all seine Schaffensphasen zieht.

Das Gemälde Für Hölderlin und die Insekten aus dem Jahr 1984 zeugt speziell von der Auseinandersetzung des Malers mit dem Zeitgeist und den Idealen der Romantik, deren größtes Sehnsuchtsmotiv die Natur darstellte. Mit ihrer Kraft und Eigenwilligkeit war sie eines der beliebtesten Motive in der bildenden Kunst, der Literatur und vor allem dem Bereich der Dichtung. Diesen Bezug stellt Schultze mit dem Titel seines Gemäldes unweigerlich her. Die lyrische und überirdische Komposition ist demnach als malerische Interpretation oder zumindest als Hommage an die Gedichte Johann Christian Friedrich Hölderlins zu verstehen. Fast dringen aus dem Formendickicht der miteinander verschmelzenden Farbschichten leise die Worte des Dichters hervor:

Wo bist du, Nachdenkliches! das immer muß
Zur Seite gehen, zu Zeiten, wo bist du, Licht?
Wohl ist das Herz wach, doch mir zürnt, mich
Hemmt die erstaunende Nacht nun immer.

Chiron, V. 1-4, in Nachtgesänge, 1803

Nicht die geometrische, sondern die lyrische Abstraktion – die spontane Improvisation und Ausformulierung von Impressionen – liegt diesem Werk zugrunde. Schultze knüpft damit an die Lehren Wassily Kandinskys an, der mit seinen Farbsymphonien versuchte die Klänge der Musik auf Leinwand zu bannen. Schultze führte dieses Prinzip Jahrzehnte nach Kandinskys Ableben fort und setzt dem Vater der Abstraktion damit indirekt ein Denkmal.

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