Marike Schmidt stellt Ihnen das Kunstwerk des Monats vor: Per Kirkeby, Læsø-Kopf I, 1983, Bronze patiniert, 83 x 29 x 48 cm. Eine
Schenkung der Freunde der Kunsthalle Emden e.V.
Per Kirkeby (1938–2018) gilt als einer der bedeutendsten Vertreter dänischer zeitgenössischer Kunst. Sein Œuvre ist äußerst vielschichtig – von Malerei, über Grafik und Plastik bis hin zu Filmen. Er war auch als Dichter und Autor tätig, äußerst sich in zahlreichten Schriften über sein eigenes Schaffen, das seiner Künstlerkollegen und -kolleginnen und allgemein zur Kunstgeschichte und -theorie.
Ausgangspunkt seines künstlerischen Schaffens ist sein wissenschaftliches Interesse an der Natur: Kirkeby studierte von 1957 bis 1964 Geologie, schloss das Studium mit einer Promotion ab und begann noch währenddessen 1962 das Studium der Malerei und Grafik in Kopenhagen an der ‚Eksperimenterende Kunstskole‘. In dieser Zeit befasste sich Kirkeby neben Grafik und Malerei auch mit Film und Installation, beteiligte sich an Happenings und wurde Teil der Fluxus-Bewegung. 1968 erschien Kirkebys erster Kurzfilm, bis 1989 folgten 23 weitere. Ende der 1960er Jahre wandte er sich dem Material Backstein zu, aus dem er gemauerte Skulpturen entwickelte. Von 1981 bis 1985 entstanden zahlreiche Bronzeplastiken, in denen er sich metaphorisch mit der menschlichen Figur auseinandersetzte.
In seinen Bronzeplastiken stellt Kirkeby einzelne Körperteile wie den Torso und den Kopf in den Fokus oder setzt Arme und Köpfe fragmenthaft zusammen. Das Motiv des menschlichen Körpers ist aus der Natur entnommen, doch im künstlerischen Schaffensprozess entwickelt es immer mehr ein Eigenleben. Diese formale Autonomie wird bereits durch die Technik ermöglicht: Das negative Gussmodell, aus dem später die Bronzeplastik gegossen wird, wird zunächst als Positiv aus Ton geformt und in Gips weiter bearbeitet. Ganz bewusst lässt Per Kirkeby die Spuren der Bearbeitung mit Spachteln oder der Hand auf der Oberfläche stehen. So sind Material und Technik unmittelbar mit Form und Inhalt verknüpft.
Obwohl die Titel bereits vorgeben, welche menschlichen Körperteile Kirkeby zum Vorbild nimmt, entziehen sich die Plastiken dem Gegenständlichen – konkrete menschliche Züge werden mitunter nur aus bestimmten Perspektiven sichtbar. So offenbart sich dem Betrachtenden auch bei Læsø-Kopf I (1983) nur bei genauerem Hinsehen das Profil eines menschlichen Gesichts mit Stirn, Nase und Mund. Der Titel verweist auf die dänische Insel Læsø, auf der Kirkeby ein Atelier unterhielt und oftmals die Sommermonate verbrachte. Ausgangspunkt ist auch hier die konkrete Figur, Kirkeby vermeidet jedoch deren enge Wiedergabe. Der Künstler spielt mit den Prinzipien des Figurativen und der Abstraktion.
Die vielgestaltigen Ausformungen der Arm- und Kopf-Plastiken und der Læsø-Köpfe vermitteln Kirkebys eindringliche Auseinandersetzung mit einem Körperbild, das die Selbsterfahrung aus dem Verhältnis zur sichtbaren Wirklichkeit entwickelt, in der Gewißheit, daß das objektive Wesen der Dinge unserem Zugriff entzogen ist und wir auf die Wahrnehmung der äußeren Erscheinung angewiesen bleiben.
Ulrich Wilmes: "Unterwegs zwischen Zuständen – die Bronzeplastiken von Per Kirkeby", in: Ausst.-Kat. Per Kirkeby – Die Bronzen, Lenbachhaus München, Köln 1998
Kirkebys Læsø-Kopf I ist derzeit in der Sammlungspräsentation "Menschenbilder" (bis 4. Juli 2021) zu sehen. Gemeinsam mit Arbeiten von Emil Schumacher, Georg Baselitz, Miriam Cahn und Karel Appel bildet Kirkebys Position einen wichtigen Aspekt der Darstellung des Menschen: Das menschliche Antlitz wird in diesen Arbeiten verfremdet, verborgen oder verzerrt.
Læsø-Kopf I (1983) war ein Geschenk anlässlich des Ankaufs des Gemäldes Ohne Titel (2000) von Per Kirkeby durch die Freunde der Kunsthalle Emden e.V. im Jahr 2006. Zusammen mit einer großzügigen Schenkung aus Privatbesitz zweier Gemälde und Skulpturen im Jahr 2009 bilden sie im Bestand der Kunsthalle Emden ein kleines, aber repräsentatives Konvolut des dänischen Künstlers.