Der deutsche Expressionismus und die internationale Kunst

Mit dem Ziel vor Augen, Kunst von der Abbildfunktion der Natur zu befreien, wandten sich die Kunstschaffenden von Brücke und Blauem Reiter neuen Inspirationsquellen zu. Die Künstlerinnen und Künstler des Blauen Reiters fanden sie zunächst in München. Die Stadt war um 1900 ein aufgeschlossener, attraktiver Standort, und galt als eines der wichtigsten Zentren für die Moderne Kunst weltweit.  

Hier gründete Wassily Kandinsky (1866-1944) schon 1901 die die Künstlergruppe Phalanx die auch erstmals Einflüsse der internationaler modernen Avantgardekunst aufnahm. In diesem progressiven Klima erhielten die Künstlerinnen und Künstler des Blauen Reiters Impulse von den verschiedensten Bewegungen. War zunächst noch die in München omnipräsente Kunst von Jugendstil und Symbolismus prägend, galt diese doch schon bald als altmodisch und überwunden. Die Künstler des Blauer Reiters suchten daraufhin neue Inspiration, etwa in russischen Ikonen und der Volkskunst. Gabriele Münter (1877-1962) etwa war nicht nur als Künstlerin tätig, sondern sammelte auch selber, insbesondere Werke der Hinterglasmalerei, die ihrem eigenen Stil nahekamen.

Neue Wege: von München nach Paris

Beeinflusst durch persönliche Netzwerke und Freundschaften orientierte man sich aber zunehmend an Frankreich, wo die internationale Avantgarde verkehrte. Tonangebend wurden besonders der Fauvismus (fauve = frz. «wild») der dort unter Künstlern wie Henri Matisse (1869-1954) und André Derain (1880-1954) entstand. Mit der Vereinfachung der Form und seinem Bekenntnis zur reinen Farbe legte der Fauvismus den Grundstein für die Kunst von Der Blaue Reiter und Die Brücke. Auch der Einfluss von Paul Cézanne (1839-1906) und dem Kubismus mit seiner Reduzierung von Figuren auf geometrische Formen machte sich bemerkbar.

Durch persönliche Kontakte, Ausstellungsbesuche sowie durch einflussreiche Kunstzeitschriften wie «Der Sturm» (herausgegeben von Herwarth Walden zwischen 1910-1932) kamen auch die Brücke-Künstler mit Wegbereitern der Moderne in Berührung, Zu ihnen zählten Vincent van Gogh (1853-1890), Edvard Munch (1863-1944), Paul Gauguin (1848-1903) oder Pablo Picasso (1881-1973), die zu großen Vorbilden wurden.  Ihre unkonventionellen Form- und Farbfindungen waren Offenbarung und Befreiungsschlag zugleich. Die Brücke bot Munch und Matisse sogar die Mitgliedschaft in ihrem Verein an. Die lehnten jedoch ab. 1911 zog die Gruppe von Dresden nach Berlin, um näher an der internationalen Kunstszene und bedeutenden Mäzenen zu sein.

Der Almanach und der Einfluss außereuropäischer Kunst

Neben den Werken der Avantgarde spielte für die beiden Gruppen auch die Beschäftigung mit außereuropäischer Kunst eine wichtige Rolle. Beim Blauen Reiter äußerte sich dies in erster Linie in der Publikation eines Almanachs, den Kandinsky und Marc herausgaben. Der Almanach sollte zum wichtigsten Selbstzeugnis der Blauen Reiter werden und sprach für die weltoffene Haltung der Redakteure.  Internationale Autoren lieferten Essays zu kunsttheoretischen Themen und stellten in über 140 Illustrationen Kunstwerke aus unterschiedlichen Kulturen, Weltregionen und Zeiten vor. Besonders ging es Marc und Kandinsky um eine gleichberechtigte Gegenüberstellung von europäischer und außereuropäischer Kunst. Ägyptischen Figuren, japanischen Zeichnungen, Plastiken aus Zentralafrika, Mexiko und Neukaledonien sollen ebenso Eingang in den Almanach finden wie die moderne europäische Malerei. Kunstwerke verschiedener Gattungen mit dem Fokus auf ästhetische Prinzipien gleichberechtigt gegenüberzustellen kam damals einer Revolution gleich.

 

 

Die Brücke-Künstler und das Ausland

Auch für die Brücke-Künstler spielt außereuropäische Kunst eine große Rolle. In der vermeintlich naturgebundenen und ursprünglichen Kunst Afrikas und Mikronesiens sahen sie einen Gegenpol zu den Auswüchsen der modernen, westlichen Zivilisation. In der Zeit wuchs in der Bevölkerung das Interesse an der außereuropäischen Kultur. Gebrauchsgegenstände und rituelle Objekte wurden überall in neugegründeten Völkerkundemuseen ausgestellt und dienten Künstler*innen zunehmend als Vorlagen für eigene Arbeiten.

Insbesondere Schmidt-Rottluff zeigte sich begeistert von der emotionalen Kraft der sogenannten «primitiven» Kunst. Er sah in der Plastik aus Afrika und der Südsee eine magische Ausdruckskraft unverfälscht lebender Naturvölker. Er sammelte auch selber und stellte in seiner Wohnung die Werke der Naturvölker neben eigenen aus. Emil Nolde brach 1914 in den Pazifik zu einer Reise nach Papua Neuguinea auf. Und kurze Zeit später reiste Max Pechstein mit seiner Frau Lotte (1893-1965) zu den Palau-Inseln um dort fernab der Berliner Großstadt nach dem unberührten «Malerparadies» zu suchen.

Typisch für die Zeit standen für die Kunstschaffenden jedoch weniger die kulturgeschichtlichen Hintergründe der Naturvölker im Vordergrund, sondern vor allem ästhetische Prinzipien. Außereuropäische Einflüsse schlugen sich in den Arbeiten der Brücke-Künstler unter anderem in der Vorliebe für Schnitzarbeiten, in der radikalen Vereinfachung der Formen und Betonung einzelner, knalliger Farben sowie in dem Einsatz von ausdrucksstarken Linien nieder.

Auf der Suche nach «Ursprünglichkeit», blenden die Künster*innen von Brücke und Blauem Reiter die harsche Realität der indigenen Völker und den zunehmenden Einfluss des Westens jedoch weitgehend aus: von den kolonialen Strukturen ist in ihren stark idealisierten Werken wenig zu spüren. Ironischerweise waren es jedoch genau diese kolonialen Strukturen, die den Kunstschaffenden den Kontakt mit der außereuropäischen Kultur erst ermöglicht hatten.

Zurück zur Übersicht

Weiter zum nächsten Text

Drücke Enter, um die Suche zu starten