Die Geburt eines Vogels
Viele Jahre lang habe ich mich als ein Nest gesehen.Wie ein Vogelnest, das die Verheißung eines neuen Lebens sehr behutsam und sicher festhält.Ein (Be)Halter von Möglichkeiten.Ich will es nicht zerstören, also halte ich und halte, hielt und hielt.Bis ich plötzlich nicht länger halten konnte.Ich wollte die Eier nicht mehr tragen.Dann, in einem Sekundenbruchteil, veränderte sich die ganze Szene.Ich sah, wie ich als roter Vogel geboren wurde.Ich streckte meinen Vogelhals mit seinen klebrigen Federn in den Himmel.Ich holtetief Luft und stieß einen kleinen Schrei aus –wie es Vogeljunge eben tun. Und all die Stöcke, die das Nest ausmachten, das ich selbst war, flogen weg. Schnell wie Kugeln, die meinen Knöchel verließen und sich in Nichts auflösten. (Lotte Wieringa)
Lotte Wieringa (* 1991 in Nijmegen) gehört zu einer jungen, aufstrebenden Generation von Malerinnen und Malern aus den Niederlanden. In ihren Werken verhandelt die Künstlerin das Verhältnis zwischen ihrer inneren Welt und äußeren Einflüssen. Dabei bezieht sie ihre subjektive Perspektive mit ein, denn im Malprozess lässt sie sich intuitiv leiten. Die energiereichen und rhythmischen Strukturen auf der Leinwand entstehen unter größtmöglicher Offenheit und im Einklang mit dem, was der Schaffensfluss hervorbringt. Das Ergebnis sind fesselnde Gemälde, die oftmals an traumartige Erscheinungen erinnern und die Grenzen der Wahrnehmung und des Wiedererkennens ausloten.
Dabei arbeitet Wieringa mit einer Vielzahl von Materialien, die sie teils experimentell einsetzt. Sie trägt ultramarinblaue Ölfarbe so auf, dass sie wie grobe Kugelschreiberstriche wirken. Dafür entwickelte die Künstlerin eine eigene Drucktechnik, bei der die Farbe indirekt auf die Leinwand aufgetragen wird. Diese rhythmischen, gekratzten Linien – mal sind es viele, mal nur wenige – bilden die Grundlade für jedes Gemälde. Sie geben die Stimmung für den Rest des Werks vor.
Für die Ausstellung sind neue Arbeiten aus dem aktuellen Werkzyklus under warm wings, round eggs entstanden. Darin beschäftigt sich Wieringa mit den Themen Haus und Heimat und den damit verbundenen Gefühlen von Sicherheit, Wärme und Geborgenheit. Rottöne stehen dabei stellvertretend für das warme Gefühl von Heimat und Zärtlichkeit auf der einen und für die Farbe der Bedrohung auf der anderen Seite. Die so erzeugte Spannung entlädt sich in Form von betont gestischem Farbauftrag auf der Leinwand.
»Die Ausstellung under warm wings round eggs erforscht die Dynamik zwischen Liebe und der Brutalität des Lebens. Das Blutvergießen und die Zerstörung, die Freude und das Leid. Die Wärme der Berührung und das Gefühl von Haut auf Haut – deine auf meiner. Über Sicherheit, über Haus und Heim. Und wie das Gefühl der Sicherheit in deinem Heim dich verändern kann zu etwas, das du zuvor nicht kanntest.«
Lotte Wieringa